Wieso wir so gerne an unsere körperlichen Grenzen gehen
Für die einen ist schon eine Wanderung in den Alpen Extremsport, für die anderen die Besteigung des Everest. Wir gehen mehr als je zuvor an unsere persönlichen Grenzen. Aber warum eigentlich? Warum übt Extrem- und Ausdauersport eine derartige Anziehung auf uns aus? Wir haben uns diese Frage gestellt und ein paar mögliche Antworten darauf gefunden.
Der österreichische Profi-Radfahrer Christoph Strasser hat in den letzten zehn Jahren mehr Zeit auf seinem Rad verbracht als die meisten von uns im ganzen Leben. Es wäre kein Wunder, wenn sich sein Sattel mittlerweile schon perfekt an seinen Allerwertesten angepasst hat.
Er hält den Weltrekord bei einem der längsten Radrennen weltweit – dem Race Across America –, bei dem er bereits sechs Siege einfahren konnte. Im Jahr 2014 legte er bei diesem Rennen die Strecke Kalifornien – Maryland (4.800 km) in unter sieben Tagen und 16 Stunden zurück, wobei er in manchen Nächten gerade mal eine halbe Stunde schlief.
Schneller, höher, stärker
Auch wenn Christoph Strasser eine absolute Ausnahmeerscheinung ist, so ist er doch Teil einer wachsenden Gruppe von Extremsportlern, sowohl auf Profi- als auch auf Amateurebene.
An ihre Grenzen gehen viele Menschen in beliebten Ausdauersportarten wie Rennradfahren, Mountainbiking, Triathlon, Ultramarathon, Schwimmen und Kajakfahren. Auch bei Abenteuersportarten wie Skifahren, Surfen, Paragleiten, Bergsteigen, Freitauchen und Fallschirmspringen fordern sich viele mehr als je zuvor.
Extremsport weltweit
Überall auf der Welt können wir uns für verschiedene körperliche Herausforderungen anmelden, ganz egal, in welcher Sportart.
In Nordafrika gibt es zum Beispiel den „Marathon des Sables“, einen 250 Kilometer langen Lauf durch die Saharawüste.
Australien ist Gastgeber der „Crocodile Trophy“, einem 750 Kilometer langen Mountainbike-Rennen durch das nördliche Queensland.
Die USA veranstalten das „Badwater 135“ (ein Wettlauf quer durch das Death Valley) und das Iditarod, ein 1.500 km langes Hundeschlittenrennen quer durch Alaska.
Österreich hält den Red Bull Dolomitenmann für uns bereit: einen Staffelbewerb mit Berglauf, Paragleiten, Kajakfahren und Mountainbiken.
Steigende Teilnehmerzahlen
Da diese Bewerbe in so vielen unterschiedlichen Ländern abgehalten werden, ist es schwierig, die Teilnahme weltweit in Zahlen zu fassen. Man kann die wachsende Beliebtheit des Extremsportes aber vielleicht an der Anzahl der Bergsteiger festmachen, die den Gipfel des Everest erklimmen.
Um die Jahrhundertwende waren es etwa 150 Bergsteiger pro Jahr. Nun sind es bereits fast 900 pro Jahr, was in der Hochsaison zu regelrechten Staus auf dem Weg zum Gipfel führt. Aber man muss sich nicht solchen intensiven Kraftakten unterziehen, um an die eigene persönliche Grenze zu gelangen.
Für einige gilt schon – abhängig vom Fitnessgrad – eine Wanderung in den österreichischen Alpen als Extremsport, für die anderen braucht es mehr Abenteuer, etwa Winterschwimmen im Meer.
Menschen arbeiten in Büros, leben in komfortablen Wohnungen, fahren mit dem Auto, benutzen Aufzüge statt Treppen. Sie bewegen sich überhaupt nicht. Sie haben das Gefühl, dass ihnen etwas im Leben fehlt. Sie wollen rennen, um sich lebendig zu fühlen. Sie wollen ein Abenteuer und wollen sich wieder mit der Natur verbinden.

Die Anziehung von Extrem- und Ausdauersport
Warum testen wir uns selbst in diesem Ausmaß? Fitness, Gewichtsabnahme und Ausgleich für unseren sitzenden Lebensstil sind allesamt Faktoren, die dazu beitragen. Selbstverständlich könnte man all das in einem Fitnessstudio erreichen – aber auf Laufbändern und Ergometern fühlen sich viele wie Hamster im Käfig.
"Wir brauchen Notfälle"
Christopher McDougall ist Autor der beiden Bücher für Läufer „Born to Run“ und „Natural Born Heroes“. Er glaubt, dass wir Sport heutzutage brauchen, um uns selbst aus unserer Komfortzone herauszulocken. „Wir haben sämtliche Notfälle aus unserem Leben verbannt“, erklärt er. „Daher müssen wir selbst Notfälle schaffen, wie beispielsweise nachts durch den Wald zu laufen – das ist eine simulierte Notfallsituation.“
Wie in aktuellen Studien in den Publikationen „Frontiers in Psychology“ und „Science Daily“ erklärt wird, gibt es große psychologische Vorteile, wenn man sich mit einer Situation außerhalb der eigenen Komfortzone auseinandersetzt. Jeder, der mit seinem Rad in der Wildnis unterwegs war oder die Alpen auf Skiern überquert hat, wird das bestätigen. Und das Adrenalin, das beim Extremsport ausgeschüttet wird, macht süchtig.
Oder gibt es einen primitiveren Grund? Die meisten von uns verbringen einen Großteil ihres Lebens im behüteten, sauberen Zuhause und in der Arbeit – zumindest in den Industrieländern. Beispielsweise haben viele von uns (zum Glück) noch keinen Krieg miterlebt, und die wenigsten wissen, was es heißt, tatsächlich im Krieg zu kämpfen.
Sich lebendig fühlen
Lahcen Ahansal hat den ultraharten „Marathon des Sables“ zehnmal gewonnen und hält damit den Rekord. Er stammt aus einer Nomadenfamilie in der marokkanischen Sahara und glaubt, dass wir von der Gefährlichkeit des Ausdauersports angezogen werden. „Die Menschen arbeiten in Büros, leben in komfortablen Häusern, fahren mit dem Auto, benutzen Aufzüge statt Treppen“, sagt er. „Sie wollen ein Abenteuer und wollen sich wieder mit der Natur verbinden.“
Unsere modernen alltäglichen „Kämpfe“ sind ganz anders als die unserer Vorfahren. Für uns bedeutet kämpfen, auf den Gipfel eines Berges zu steigen. Oder im offenen Meer zu schwimmen. Wie Lahcen Ahansal durch die Sahara zu laufen. Oder, wie Christoph Strasser, mit dem Fahrrad quer durch Amerika zu fahren.
Die Gewissheit, immer ein Sicherheitsnetz zu haben
Im Gegensatz zu Soldaten in der Schlacht, gehen die meisten von uns beim Sport in dem Wissen an den Start, dass sie ihr Leben nicht übermäßig riskieren. Das ist in Österreich der Fall, wo Organisationen wie der Österreichische Alpenverein und das Österreichische Kuratorium für Alpine Sicherheit Ratschläge zum Thema Sicherheit an Skifahrer, Wanderer, Radfahrer, Bergsteiger und Kletterer ausgeben.
Die Macht der sozialen Medien
Den größten Einfluss auf die wachsende Beliebtheit des Ausdauer- und Extremsports hat allerdings die moderne Technologie. Auch wenn Sportler während eines Wettkampfs relativ sicher unterwegs sind, können sie es über soziale Medien, das Smartphone oder Actionkameras wie die GoPro so darstellen, als würden sie dabei ihr Leben riskieren.
Im Jahr 2018 betrug der Gesamtmarkt für Action-Kameras (hier vor allem GoPros) laut Statista 4,47 Milliarden US-Dollar. Diese Zahl soll innerhalb der nächsten fünf Jahre auf 10,25 Milliarden US-Dollar anwachsen.
Und es werden wohl kaum Hochzeiten damit gefilmt... Sie werden oft auf Helmen befestigt und liefern atemberaubende Aufnahmen von Mountainbikern, Surfern und Basejumpern in Action.
Wie alle anderen lieben es auch Extremsportler, ihre Heldentaten zu zeigen.
An die Grenzen gehen in Österreich

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Dominic Bliss
Dominic Bliss ist ein in London lebender Journalist, der für Magazine wie National Geographic, GQ und Men's Health schreibt.
Er hat Downhill-Mountainbiking in Utah, Eisgolf in der Arktis, Klettern in den Dolomiten, Bergläufe im Hochatlas, Elefantenpolo in Thailand und einen halben Ironman in Österreich überstanden.
Oh, und die Londoner Rushhour.