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    Schubert war reichlich heroisch!

    Franz Schuberts Sexualität war ein Diskussionsthema unter Musikexperten. Es wurde der Schluss gezogen, dass Schubert starke homoerotische Erfahrungen gemacht hatte, und dass Homosexualität in dieser Subkultur kein Tabu war.

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    Dirigent, Musikwissenschaftler und Präsident des Bard College

    Interview mit Leon Botstein

    In den 90er Jahren brach unter Musikwissenschaftlern ein Tumult aus: Es ging um Franz Schuberts Sexualität. Auslöser war ein Artikel von Maynard Solomon aus dem Jahr 1989. Solomon kam zu dem Schluss, dass Schubert starke homoerotische Erfahrungen gemacht hatte, und dass Homosexualität in dieser Subkultur kein Tabu war.

    Wir sprachen mit dem amerikanischen Dirigenten, Musikwissenschaftler und Präsidenten des Bard College, Leon Botstein: „Zu Schuberts Lebzeiten war Bisexualität gang und gäbe.“

    Botsteins Arbeit wurde von der American Academy of Arts and Letters, Harvard University, der österreichischen Regierung und der Carnegie Foundation ausgezeichnet. Er ist Autor des Buches „Jefferson’s Children: Education and the Promise of American Culture“ und „Von Beethoven zu Berg: Das Gedächtnis der Moderne“.

    Leon Botstein im Gespräch

    „Das Schwierigste in der Musik ist es, eine großartige Melodie zu schreiben. Und Schubert war einer der besten Melodiker aller Zeiten.“
    austria.info: Was ist Franz Schuberts Vermächtnis?
    Leon: Seine Lieder sind für jedermann gedacht. Sie werden zur Sprache des verborgenen persönlichen Ausdrucks von Intimität, die öffentlich zur Schau gestellt werden kann. Und das ist seine Zauberformel. Ich kann Schuberts Lieder singen oder sie mir anhören, und ich kann dies im öffentlichen Raum tun, obwohl ihr Thema intim ist. Das schafft ein Universum der persönlichen Freiheit.
    austria.info: Denken Sie, dass wir Franz Schubert den Platz in der Musikgeschichte eingeräumt haben, den er verdient?
    Leon: Musik ist nicht Tennis oder Fußball. Ich muss Leute nicht einstufen wie im Sport. Ich würde die Frage anders formulieren: Bin ich überzeugt, dass Schubert einer der großen Komponisten der westlichen Musiktradition war? Und die Antwort lautet eindeutig: Ja! Das Schwierigste in der Musik ist es, eine großartige Melodie zu schreiben. Und Schubert war einer der besten Melodiker aller Zeiten. Er hat Volksmusik und Konzertmusik miteinander integriert.
    austria.info: Denken Sie, dass Franz Schuberts Musik etwas von Natur aus Wienerisches hat?
    Leon: Ja! Wir bezeichnen Wien als Stadt der Musik, aber tatsächlich war keiner seiner großen Komponisten Wiener. Weder Haydn, Beethoven noch Brahms. Unter den großen kanonischen Komponisten war Schubert der einzige gebürtige Wiener. Er besaß etwas, das ich als lokale Sensibilität bezeichnen würde. Was an Schubert originell ist, ergibt sich aus dem Lokalen. Und im 19. Jahrhundert wurde er zum Symbol eines alten Wiens.
    austria.info: Hatte seine Musik nicht etwas sehr Dunkles?
    Leon: Die Dunkelheit seiner Musik hat mit der Dunkelheit dieser Zeit zu tun. Schuberts Generation erreichte die Volljährigkeit, nachdem all die liberalen Ideen der Französischen Revolution zerstört worden waren. Sie wurden in das Metternich’sche System hineingeboren, in einen Ort zunehmender Krankheit und Armut. Warum sollte ihr künstlerischer Ausdruck nicht Sehnsucht und Verzweiflung sein? Wenn man an das tägliche Leben in Wien zu dieser Zeit denkt, war es eine Stadt ohne Abwassersystem, mit regelmäßigen Epidemien und unglaublicher Armut. Menschen haben regelmäßig Kinder im Säuglingsalter verloren! Wir mit unseren Impfungen, unserer Zentralheizung, Sanitäranlagen, Ventilatoren und Aspirin haben keine Ahnung, wie es war, 1820 am Leben zu sein.
    austria.info: Schuberts scheinbare Homosexualität wurde zum heißen Thema unter Musikwissenschaftlern in den 90ern. Warum? Wieso spielt das eine Rolle?
    Leon: Als Musiker denke ich nicht, dass Biografie der Schlüssel zum Verständnis der Arbeit eines Menschen ist. Aber die Frage der Sexualität ist für Schubert relevant, weil sich so viel seiner Musik mit Verlangen, mangelnde Erfüllung und unerkannte Liebe befasst. Die gleichen komplexen Themen wie in Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“. Da so viel von seiner Musik den existenziellen Zustand der Intimität und der Einsamkeit, den Dialog mit sich selbst, das Träumen und den Versuch, den schrecklichen Aspekten des täglichen Lebens zu entkommen, zum Ausdruck zu bringen scheint, ist es nicht unangemessen, die Frage zu stellen: Wie war sein Privatleben? Aufgrund des Heinrich Berté Singspiels und der Art und Weise, wie Schubert im frühen 20. Jahrhundert in der Filmwelt dargestellt wurde, blieb er irgendwie als junger Liebhaber hängen. Er wurde zum Stellvertreter des leidenschaftlichen Heterosexuellen, zum modernen Werther. Das Problem dabei ist …, dass es eigentlich ein Betrug ist. Erst im 19. Jahrhundert, beschleunigt von Oscar Wilde, tritt Homosexualität als „abnormal“ in das öffentliche Gespräch ein. Zu Schuberts Lebzeiten war Bisexualität gang und gäbe. Es war weder ungewöhnlich, noch etwas, worauf jemand achtete. Er identifizierte sich nicht als homosexuell oder heterosexuell – er war einfach sexuell. Und es scheint mir, dass Maynard Solomon und andere Musikwissenschaftler sehr gut argumentiert haben, dass sich seine intimen Beziehungen wahrscheinlich auf Männer und Frauen erstreckten.
    austria.info: Gibt es irgendwelche Beweise dafür, dass er seine Homosexualität versteckt hat?
    Leon: Es gab keinen Grund zum Verstecken. Das ist mein Punkt.
    austria.info: Laut Geschlechterklischees hatte Franz Schubert weibliche Züge, im Gegensatz zum „heroisch-männlichen“ Beethoven.
    Leon: In dieser Geschichtsepoche gab es keine Geschlechterrhetorik. Schubert war reichlich heroisch! Diese Idee einer deterministisch weiblichen oder männlichen Ausdrucksweise ist eine Projektion des zeitgenössischen Dialogs auf die Vergangenheit. Ein Versuch, die Vergangenheit so zurechtzuschneiden, dass sie in die Gegenwart passt. Tchaikovsky wurde beispielsweise die Musik des heterosexuellen Verlangens, „Romeo und Julia“, und er war bestätigt homosexuell. Der „heroische“ Wagner … seine Musik ist voll von homoerotischen Sensibilitäten. Und die Tatsache, dass Schubert eventuell mit Männern geschlafen hat, war vollkommen unspektakulär. Das hat niemanden gekümmert. Das ist ein Phänomen des späteren 19. Jahrhundert, das sich leider bis heute hindurchgezogen hat. Ich glaube, es sagt mehr über unsere Zeit aus, als über Schubert.

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