Wieso um diesen Fluss 50 Jahre lang gekämpft wurde
Warum Österreichs letzter freifließender Gletscherfluss eine Erfolgsstory für Umweltschutz und Tourismus ist...
Wieviel kann man in fünf Tage hineinpacken? Fünf Tage, das sind 120 Stunden, 7.200 Minuten – in unserer schnelllebigen Welt scheinbar keine sehr lange Zeitspanne. Es ist eine Arbeitswoche, gemessen in getrunkenen Tassen Kaffee, gesendeten und empfangenen E-Mails und Folgen der Lieblingsserie nach einem Tag am Schreibtisch.
Aber entlang der Isel in Osttirol bekommt der Begriff „Zeit“ eine andere Bedeutung. Sie verlangsamt sich. Hier sind diese fünf Tage die Zeitspanne, in der man den Iseltrail erwandern kann; wo Small Talk durch das stetige Rauschen des Flusses ersetzt wird, Excel-Tabellen durch turmhohe Fichten, und das grelle Leuchten eines Laptop- oder Handybildschirms durch das Weiß des Gletschereises, das in der Sonne glitzert.
Die Iseltrail-Erfahrung: von malerischen Bergdörfern bis zu arktischen Landschaften
Die Isel ist der letzte freifließende Gletscherfluss Österreichs. Komplett ungehindert durch Dämme oder andere von Menschenhand geschaffene Barrieren fließt sie vom Gletscher Umbalkees in der Nähe der majestätischen Rötspitze im Nationalpark Hohe Tauern bis zum Zusammenfluss mit der Drau. Der Iseltrail, der 2020 erstmals für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, ist ein etwa 75 km langer Weitwanderweg – aufgeteilt auf fünf Etappen, die in fünf Tagen erwandert werden können. Während dieser fünf Tage legen Wanderer den Weg von der mittelalterlichen Stadt Lienz zum Umbalkees zurück und stoßen dabei auf eine unglaubliche Fülle an Landschaftsbildern und Ökosystemen: malerische Bergdörfer, sonnendurchflutete Täler, Sandstrände, friedliche uralte Wälder, ehrfurchtgebietende Wasserfälle und atemberaubende arktische Landschaften.
Auf dem Weg durch diese erstaunliche Konstellation von Lebensräumen ist die freifließende Isel die einzige Konstante. In all ihren Formen – als tosende Wellen oder behutsam strömender Bach – erinnert sie die Besucher daran, dass sie allen Eingriffen der modernen Welt standgehalten hat, und fordert sie auf, es ihr gleich zu tun. „Lass dir Zeit“, flüstert der Fluss, „lausche dem Vogelgesang, atme tief ein und erfreue dich an der kühlen, nach Kiefern duftenden Brise – genieße das Gefühl, mit der Natur im Einklang zu sein.“
Durch das breite Flussbett der Isel konnten sich hier Lebensräume halten, die anderswo in Europa weitgehend verschwunden sind.
Das einzigartige Ökosystem eines Gletscherflusses
Gletscherflüsse sind deshalb so einzigartig, weil sie sich in ständigem Wandel befinden. Ohne Dämme oder andere Hindernisse, die in die natürliche Strömung des Wassers eingreifen, treten Flüsse jeden Tag über die Ufer. Dadurch wird ein besonderer und seltener Lebensraum für zunehmend gefährdete Flora und Fauna geschaffen.
Ein Beispiel dafür ist die Deutsche Tamariske, eine hochgewachsene Pflanzenart mit tiefen Wurzeln und hellrosa Blüten. Sie war früher ein häufiger Anblick, ist aber aufgrund der schwindenden Zahlen von Wildflüssen in Europa selten geworden. Überflutungen sind für diese Spezies lebensnotwendig: Die ständigen Verschiebungen der Kiesbänke liefern wichtige Nährstoffe und sorgen dafür, dass die sonnenliebende Spezies nicht von Kiefern und Erlen überwachsen wird.
Die Isel ist aber nicht nur für die gefährdete Deutsche Tamariske ein sicherer Hafen, sondern auch für viele Tierarten. In den letzten Jahren gingen die Bestände von Wasserläufern, Fischottern und Huchen (auch als Donaulachse bekannt) im Allgemeinen zurück – im Umkreis der Isel fanden diese Arten jedoch Zuflucht.
Freifließende Gletscherflüsse sind also unschätzbar wertvoll – und doch werden sie durch Bedrohungen wie Gletscherschwund in Folge des Klimawandels immer seltener. Die Isel gilt heute als Schutzgebiet, und folgt man ihrem Pfad, so scheint ihre natürliche Kraft grenzenlos. Doch ihre Existenz war nicht immer gesichert.
Ein jahrzehntelanger Kampf für die Erhaltung
Im Jahr 1971 wurden Pläne zum Bau eines riesigen, hydroelektrischen Speicherkraftwerkes in Osttirol vorgelegt. Zugunsten eines Stausees sollten alle Gletscherflüsse umgeleitet werden. Es ist den unbeugsamen Bemühungen von Menschen wie Umweltschützer Wolfgang Retter zu verdanken, dass die Isel heute noch in ihrem natürlichen Zustand existiert. Er gründete damals den Verein zum Schutz der „Erholungslandschaft Osttirol“, widmete sich dem Kampf um die Erhaltung des Flusses und organisierte Vorträge mit renommierten Wissenschaftlern, um die lokale Bevölkerung davon zu überzeugen, dass dieses Stück außergewöhnlicher und unberührter Natur geschützt werden müsse.
Die Kraftwerkspläne waren für mich unverständlich. Ich dachte mir: „Das gibt es doch nicht! Man kann doch nicht genau hier, wo ein Nationalpark geplant ist, alle Gletscherbäche ableiten!“ Und so habe ich begonnen, kritische Fragen zu stellen.
Ein Wanderweg als Schutzschild für die Umwelt
Nach jahrzehntelanger harter Arbeit wurde die Isel 2015 zu einem Teil der Natura2000-Schutzgebiete – einem Netzwerk aus wertvollen, aber gefährdeten europäischen Habitaten. Fünf Jahre später, im Jahr 2020, wurde der Iseltrail eröffnet. Entwickelt in Kooperation mit dem Umweltschützer und Fotografen Matthias Schickhofer ist der Iseltrail nicht nur eine neue Route, die Urlauber und Wanderer erkunden und genießen können; er stellt im übertragenen Sinne auch einen zusätzlichen Schutzschild für den Fluss und seine Umgebung dar. Er sorgt für öffentliche Aufmerksamkeit, bringt zusätzliche Fördermittel und fördert das tiefere Verständnis für die Erhaltung anderer europäischer Gletscherflüsse. In den Worten von Wolfgang Retter: „Der Iseltrail war der letzte Sicherungsstein in der Schutzmauer um die Isel“.
Der Iseltrail war der letzte Sicherungsstein in der Schutzmauer um die Isel.
Mehr als ein Weitwanderweg: Inspiration, Arbeitsplätze und Nachhaltigkeit
Der Iseltrail repräsentiert ein Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Eines seiner Ziele ist es, die öffentliche Anerkennung und das Verständnis für Gletscherflüsse und andere naturbelassene Lebensräume zu verbessern. Wenn wir dem Iseltrail folgen, erleben wir die Kraft, Schönheit und Bedeutung der unberührten Natur – und vielleicht werden wir sogar dazu inspiriert, selbst mehr auf die Umwelt zu achten oder uns aktiv für den Umweltschutz einzusetzen.
Und: Der Iseltrail ist nicht nur Inspirationsquelle für Besucher, er schafft auch nachhaltige Arbeitsplätze für die einheimische Bevölkerung. Die Nachfrage nach Naturführern und Förstern steigt, ebenso wie nach Gästebetreuern für Berghütten, Hotels und andere Einrichtungen entlang der Route.
Nützliche Links
Das Potenzial des Iseltrails für die Natur, die ihn umgibt, ist unbestreitbar: Er sorgt für einen einfacheren Zugang zum Ökosystem für wissenschaftliche Studien und für die Aufstockung von Fördermitteln für den Naturschutz. Außerdem kann er als Beispiel für die Entwicklung von umweltfreundlichen Richtlinien dienen.
Der Status des Iseltrails ist nun gesichert – und das Abenteuer kann beginnen
In Österreich gehen Umweltschutz und Tourismus Hand in Hand. Nur in wenigen Fällen wird dies so deutlich wie auf dem Iseltrail. Dank der unerbittlichen Entschlossenheit, Expertise und zukunftsorientierten Denkweise von Aktivisten und Umweltschützern wie Wolfgang Retter und Matthias Schickhofer können Urlauber in Österreich nun einen der letzten freifließenden Gletscherflüsse Europas hautnah erleben. Hier, unter uralten Bäumen, umgeben von verhaltener Stille, die kühle Gischt eines Wasserfalls auf dem Gesicht, während Kaleidoskope von Schmetterlingen über die Ufer tanzen: Dies ist ein Ort des Abenteuers, wo sich Besucher mit der Erhabenheit der Natur verbunden fühlen können.
Wir haben hier etwas komplett Unverwechselbares - aus Umweltsicht, aber auch für den Tourismus.